Martin Rasch

Konzertpianist

Beethoven Sonaten - Philosophie

Kosmos in Bewegung. Am Anfang war der Dreiklang.

Kosmos in Bewegung
Beethovens 32 Klaviersonaten

Am Anfang war der Dreiklang. Aufschnel­lend, aber noch leise, tupft ihn die rechte Hand in die Tasten und stoppt ihn mit einer raschen Drehung ab. Das Motiv drängt höher, verkürzt, verdichtet zu einem explosiven Akkord. Die folgende Pause vibriert vor Spannung...
Am Ende löst sich alles auf in reinen, lichten Klang. In sternenferner Höhe zieht die Melodie ihre Bahn und entschwindet. Anfang und Ende von Beethovens 32 Kla­viersonaten. Derart aufgespannt zwischen den Polen von Beethovens Kunst – Bewe­gungsdrang und Ruhe, Leidenschaft und Transzendenz – scheinen sich die Sona­ten geradezu als sinnfälliger Zyklus zu runden. Doch zwischen op. 2 und op. 111 liegen 28 Jahre des Schaffens und Suchens, 32 überraschend verschiedene Werke.

»Das Neue Testament aller Klavier­spieler« nannte sie Hans von Bülow, was aber an ihrer pulsierenden Fülle, an ihren formalen Verwerfungen und seelischen Abgründen vorbeizielt. Besser trifft noch immer das Wort vom »Kosmos«: Da gibt es Welten über Welten, seltsame Konstellationen, Kollisionen, Zerstörung und Entstehung, klare Gesetze und dunkle Kräfte. Der Kosmos ist in Bewegung, »work in progress«, oder wie Beetho­vens Lieblingsphilosoph Immanuel Kant schrieb, »immer geschäftig, neue Dinge und neue Welten hervorzubringen«. Dieses revolutionär neue, dynamische Weltbild hat Beethoven verinnerlicht, und es steht auch hinter seiner Schaffensästhetik: »allein Freyheit, weiter gehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen Schöpfung, Zweck«. Auch Martin Rasch ist fasziniert von den Entwicklungskräften in diesem Kosmos, »diesen Umbrüchen, diesen revolutionären Neuerungen, die aber nicht aufgesetzt sind, sondern ganz natürlich auseinander hervorgehen. Eins entwickelt sich aus dem Anderen, wie sich sogar die Zerrissenheiten des Spätwerks im Frühwerk ankündigen.« So gesehen folgt das Gesamtwerk ähnlichen Prinzipien wie ein Sonatensatz Beetho­vens. Und so liegt es für Martin Rasch nahe, gerade bei Beethoven »aufs Ganze« zu gehen. Nach vielen Jahren des Lebens mit diesen Sonaten und seinen erfolg­reichen Gesamtaufführungen ist es ihm eine Herzensangelegenheit, den Zyklus geschlossen auf CD vorzulegen.

Als Beethoven 1795 sein op. 2 zusam­menstellte, wusste er genau, worauf er hinaus wollte. Die drei Haydn gewidme­ten Sonaten sind in der klassischen Tra­dition verankert, die äußerst knappe, im Originaldruck auf eine Seite passende Exposition der ersten Sonate in f-Moll ist ein Muster der Form. Und doch ist sie auch eine Art »Visitenkarte« von Beethovens ganz eigener musikalischer Persönlichkeit: Prägnanz und Vorwärts­drang. Das hier sich anmeldende Unge­stüm bricht im Finale voll aus, vielleicht zu Haydns Entsetzen, aber nicht ohne moti­vische Rückbindung an den ersten Satz. Mit der humoristisch-lyrischen Sonate in A-Dur und der virtuos-konzertanten C-Dur-Sonate folgen Werke völlig ande­ren Charakters. Deren langsame Sätze, tief gefühlte und weit im Klangraum ausgespannte Gesänge, werden ebenso zum Markenzeichen Beethovens wie das schnelle, gegen den Strich gebürstete Scherzo der dritten Sonate. Mit op. 2 liefert Beethoven eine Art »Exposition« seines Sonaten-Gesamtwerks. Die zu höchst individuellen Werken gebündelte Fülle an Tonfällen und Texturen spiegelt seinen gleichsam weltschöpferischen Anspruch.

Den teilt auch die konzeptuell ver­wandte Trias von op. 10. Allerdings hat Beethoven hier die Charaktere noch schärfer gezeichnet, noch kontrastreicher und konzentrierter angelegt, wie schon das gezackt aufschießende erste Thema von op. 10/1 signalisiert. In op. 10/3 spitzt Beethoven seinen Hang zu Extremen nochmals zu: Dem »Presto« dahineilenden Kopfsatz folgt das »Largo e mesto«, das über bloße Traurigkeit hinaus eine echte Depression zum Aus­druck bringt, die bohrend und lähmend in sich selber kreist. Derlei existenziel­ler Ton hebt die ganze Sonate auf eine neue Stufe der Ästhetik. Eine Schlüssel­rolle in Beethovens Entwicklung spielen auch die als »Grande Sonate« bezeich­neten Einzelwerke: Vor der berühmten Pathétique op. 13 mit ihrer elementar-dramatischen Durchschlagskraft zunächst einmal die Es-Dur-Sonate op. 7, die Martin Rasch ebenso als »Meilenstein« sieht: Da öffnet sich im langsamen Satz mit seinen »sprechenden Pausen« ein geheimnisvoller Tiefenraum wie erst wieder im Spätwerk. Die ungewöhn­lich ausgedehnte Sonate entfaltet ihre Ideenfülle eher narrativ – und ist damit grandios gegen das übliche Beethoven-Klischee vom Dramatiker gerichtet. Das gilt auch für die B-Dur-Sonate op. 22, die virtuos, humoristisch und auch ein biss­chen nostalgisch mit den Formen und Tonfällen der Klassik spielt. So, mit einem reflektierten Blick zurück, zieht der jetzt 30-jährige Beethoven eine Zwischenbi­lanz – bevor er zu neuen Ufern aufbricht.

Die Sonaten op. 26, op. 27 und op. 28 bilden für Martin Rasch eine eigene, zusammengehörige »poetische Insel« noch vor der großen mittleren Gruppe. Beethoven hinterfragt hier das Konzept »Sonate« selbst: Ist es wirklich das formale Gerüst, das diese Gattung trägt? Oder eher die Idee, die Phantasie, der innere Gehalt? Das suggeriert bereits der Untertitel der beiden Werke von op. 27 Sonata quasi una Fantasia. Mit ihrer individuell verketteten Satzfolge wird die neben der sogenannten »Mondscheinsonate« weniger bekannte Es-Dur-Sonate diesem Titel besonders gerecht. Die von dem theatralischen Trauermarsch »sulla morte d’un Eroe« beherrschte Sonate op. 26 kommt sogar ganz ohne Sonatensatz aus... Die ganze Gruppe, selbst das wieder traditionell gebaute op. 28, eint der lyrische, auf dia­lektische Spannung verzichtende Anfangs­satz. Der standardisierten Sonaten-Logik misstraut der »poetische« Beethoven.

»Jeden Tag gelange ich mehr zu dem Ziel, was ich fühle, aber nicht beschrei­ben kann«, schreibt er Ende 1801. Der Verzweiflung über seine Schwerhörigkeit setzt er einen kreativen Schub entgegen, der sich unter anderem in einer weiteren Trias von Klaviersonaten Bahn bricht: op. 31. Beethoven hat jetzt einen Weg gefunden, Phantasie und Logik, Gefühl und Intellekt, Freiheit und Ordnung neu zu vereinen. Er nutzt nun wieder die Dynamik der Sonatenform, aber er erfin­det sie gewissermaßen für jedes Stück neu – besonders spektakulär natürlich in der berühmten »Sturmsonate«, weniger offensichtlich, aber sehr geistreich auch in den sie flankierenden Sonaten. So vereint op. 31, beginnend mit kauzigem Humor und endend mit einem rasanten Wir­beltanz, noch einmal ein übergreifendes Gesamtkonzept mit drei sehr selbststän­digen Werken.
Von jetzt an aber wird jedes weitere Opus, individuell durchgeformt und getragen von einer starken Idee, zum absoluten Einzelwerk, vergleichbar Beet­hovens Symphonien ab der Eroica. Die »Waldstein-Sonate« op. 53 etwa steht da wie ein monumentales Stück Archi­tektur von klarsten Flächen und Formen, weitgespannte, neuartige Klangräume, durchpulst von Bewegungsenergie, leuchtenden Farben und brillantem Tas­tenspiel. Ihr dunkles Gegenstück ist die sogenannte »Appassionata« op. 57, emotional Beethovens bislang extremste Klaviermusik, von Ausbrüchen zerrissen und ausweglos vorangetrieben in rasende Verzweiflung. Und doch wahrt Beetho­ven gerade hier die (Sonaten-)Form, als wolle er diesen Seelensturm unter Kon­trolle halten... Im Schatten dieser Gigan­ten darf man nicht die kleineren Sonaten dieser Zeit vergessen. Sie sind kaum weniger kühn gedacht und formal wieder freier. Beethoven selbst schätzte vor allem die Fis-Dur-Sonate op. 78, deren knapper, lyrischer Kopfsatz so dicht und komplex gebaut ist wie ein avanciertes Gedicht. Hier kündigt sich ein »roman­tischer« Beethoven an, und mehr noch in der Sonate op. 81a (»Das Lebewohl«), die eine poetische, assoziativ vermit­telte Ideenfülle mit dem Gestus eines Virtuosenstückes verbindet. Schubert, Chopin und Schumann scheinen nicht mehr weit...

Auf dem abenteuerlichen Weg durch Beethovens Klavierkosmos nähert man sich nun in weiten Schritten dem oft als »visionär« beschworenen »Spätwerk«. Op. 90 in e-Moll/E-Dur koppelt einen sehr frei gebauten Sonatensatz mit einem in Rondoform verarbeiteten »Lied ohne Worte«. Noch mehr aufhorchen lässt die A-Dur-Sonate op. 101, geradezu schu­mannesk im Tonfall und gebaut in einer ganz eigenen zyklischen Form, die von der »innigsten Empfindung« bis hin zur Fugentechnik sehr disparate Elemente zusammenzwingt. Beethoven strebt jetzt eine nahezu utopische Totalität der Stil-und Ausdrucksmittel an, die Vermählung von Vergangenheit und Zukunft, die Auf­hebung aller Gattungsgrenzen der Kla­viersonate. Man fühlt sich an Friedrich Schlegels Konzept der »progressiven Universalpoesie« erinnert: »Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthal­tenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.« Für diesen Anspruch der subjektiven Weltschöpfung, so erkannte bereits Schlegel, gab es allerdings »noch keine Form, die dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken«. In der Tat wirken Beethovens Texturen und formale Abläufe bisweilen zerrissen. Doch es entstehen eben neue Formen, ein Aspekt, der für Martin Raschs Inter­pretation sehr wichtig ist: »Beethoven ist für mich der musikalische Architekt schlechthin, der bei aller Zerrissen­heit doch stabile Gebilde erschafft, die im Ganzen stimmig und tragfähig sind. Gestalt und Inhalt verbinden sich in voll­kommener Ausgewogenheit.« Am deut­lichsten äußert sich dieser formbildende Wille in der Sonate op. 106, die, so sagte Beethoven, »meine größte seyn soll«. Die Große Sonate für das Hammerklavier kehrt noch einmal zur klassischen Form zurück. Aber technisch und ausdrucksmäßig, im Detail wie im Bauplan, ist sie so kühn und gewaltig konzipiert, dass sie, in einer fast irrwitzig schweren Fuge kulminierend, jede Grenze transzendiert. Nach dieser Über-Sonate ist ein »weiter gehn« kaum mehr vorstellbar...

Im April 1820 versprach Beethoven seinem Verleger »ein Werk von drei Sonaten zu 120 Dukaten«. Obwohl die Anfang 1822 vollendeten Sonaten eigene Opuszahlen tragen (op. 109, op. 110, op. 111), hält sie über den geschäftli­chen Aspekt doch auch ein ideelles Band zusammen: Beethovens Sonatenschaffen endet wie es begann – mit einer Trias. Hier verdichten sich die Merkmale seines Spätstils mit den bisher radikalsten Konsequenzen. Man begegnet wieder poetischen, frei schweifenden Formen, »barocker« Polyphonie, einem traditio­nellen, aber exzentrisch gebauten Sona­tensatz. Daneben erhält hier eine Form besonderes Gewicht, die für Beethoven schon immer wichtig war: Thema und Variationen. In op. 109 löst sich das Thema bereits in einem Klangraum auf, den die Triller ins quasi Transzendentale öffnen. Darüber hinaus unterzieht der Schlusssatz aus op. 111 den »kunstlosen Gesang« der Arietta einem einzigartigen rhythmischen Verwandlungsprozess, der sie ganz von Zeit und Raum zu befreien scheint. Da konnte selbst der Beethoven gewogene Kritiker Adolf Bernhard Marx nicht mehr folgen, fand aber die passenden Worte für diesen Schlusspunkt, wo sich »im Ende des Endlichen das Ewige zeigt.«

Jörg Handstein